Prinz Pikkolos WM-Tagesticker 9.Juni - 10. Juli 2006
- tägliche Impressionen zur WM 06 in Deutschland -
9. Juni 06
+++ Olé Olé Olé! WM 2006 - Die Welt zu Gast bei Freunden. Na dann mal herzlich willkommen! Deutschland hat sich schick gemacht, alles blitzt und blinkt und ist in hellsenffarbene FIFA Farben getüncht - vom Bus bis hin zum Papierkorb.+++ Endlich geht es los! Die vor Ewigkeiten feierlich eingeweihte große WM Uhr am „Großen Stern", die die langen quälenden Monate, Tage, Stunden und Minuten unaufhörlich rückwärts gezählt hat, nähert sich nun endlich der Stunde NULL! Der lang ersehnte Anstoßpfiff. +++ Ab dann beginnt ein 31tägiges Spektakel +++ Brot und Spiele der Neuzeit für alle Erdenbürger: 32 Teams werden in 62 Spielen in 12 Stadien um den güldenen Pokal kämpfen. +++ In den nächsten Tagen wird viel passieren, soviel ist klar. Es wird gesungen und gesoffen, es wird gefeiert und geweint, Helden werden geboren und Träume platzen. Und wir sind ab heute immer mit dabei +++ Hip Hip Hurra! +++

10. Juni 06
+++ Gänsehaut in München! Das Spektakel beginnt mit einem gelungenen Auftakt: Wir sind Deutschland, WIR haben das Eröffnungsspiel gegen Costa Rica gewonnen, und WIR werden ganz sicher Weltmeister - soviel ist nach vier Liter Bier ganz sicher +++ Erstaunlich wie mit einem Mal im frustrierten grauen Deutschland der Patriotismus erwacht. Menschen, sich sonst schämend das Wort „deutsch" in den Mund zu nehmen, schwenken nun hemmungslos schwarz rot goldene Fahnen, schminken sich mit einem lustigen dreifarbigen Fanstift das Gesicht und singen aus vollem Halse die Nationalhymne. Es macht Spaß, und plötzlich scheint sogar wieder die Sonne +++ Die „WM" ist ein soziales Phänomen, das sich in vielerlei Hinsicht manchmal absurd auswirkt. +++ Beispiel 1: Hatte man vor ein paar Tagen noch große Sorge wegen Hartz4, NoGoAreas oder durchgeknallten Rütlischülern, dreht sich heute unsere ganze Besorgnis um die „Wade der Nation"! +++ Beispiel 2: Haben vor ein paar Tagen gestandene Erwachsene noch an der Börse spekuliert, Staudämme gebaut oder Bilanzen geprüft, sammeln sie nun Paninibilder oder sonstige Sammelsticker, Fanmünzen oder limitierte Coladosen - aber die plötzlich erwachte kindliche Sammelleidenschaft bei gestandenen Erwachsenen ist ein Thema, das es später noch genauer zu untersuchen gilt +++

11. Juni 06
+++ Die WM ist wie Karneval: 31 Tage lang steht alles Kopf. +++ Zeitlich begrenztes soziales Ausflippen ist erlaubt und sogar erwünscht: verkleiden, betrinken, singen und fremde Leute umarmen und begrapschen +++ Man sollte jeden Tag genießen - wie die Eintagsfliege im Gutelaune-Vodafone-Werbespot - denn nach dem 9. Juli wird alles wieder ganz normal sein - halt so wie nach der Karnevalszeit, wenn der Kater nachlässt und man sich langsam daran erinnert, mit wie vielen Unbekannten man ungeschützten Geschlechtsverkehr hatte +++ Heute am Sonntag haben sogar die Geschäfte geöffnet, mit der Hoffnung, den ganz großen Reibach zu machen, denn die Touristen aus aller Welt wollen tolle Dinge kaufen: plüschige „Goleo" Maskottchen in allen Größen, T-Shirts, Schweißbänder, Fußbälle, Puzzles, Servietten, Feuerzeuge, Sticker, Fahnen, Taschen, Jacken, Hosen, Getränke - lizenzierte FIFA Produkte wohin das Auge reicht. +++ Es ist aber nicht nur eine globale, sondern auch lokale Produktmaschinerie zu beobachten: Beim Metzger gibt es unlizenzierte Weltmeisterwürstchen, beim Döner ein Fußballspezialangebot und in manchen Puffs kann man bei erfolgreichem Torwandschießen einen Rabatt bekommen +++

12. Juni 06
+++ Die WM Routine hat sich eingespielt: Das Wetter ist herrlich, und die Abende sind zum Fußballgucken reserviert. +++ Die ersten Spiele sind um, auch die von unseren Lieblingsfußballgegnern Holland und England - und es fällt uns allen ein dicker Stein vom Herzen, denn soooo stark waren sie wirklich nicht! Fußballgott sei Dank! Nicht auszudenken, wenn England oder Holland in DEUTSCHLAND Weltmeister werden würde. Eine über Jahrhunderte währende Schmach sondergleichen müssten wir über uns ergehen lassen. In jedem Urlaub, auf jeder Dienstreise würde man hämisch darauf angesprochen werden. Nein, das darf nicht sein. Aber da man bei diesem Sport ja nie wissen kann, sollte man vorsorgen. Sicher ist sicher: Also geht man am besten in eines der in letzter Zeit aus dem Boden gesprossenen Wettbüros der Stadt und setzt einen ordentlichen Geldbetrag auf seinen Lieblingsrivalen. Das mag zwar paradox erscheinen, aber wenn dann doch der SuperGAU eintreten sollte, und dieser Rivale die WM gewinnt, hätte man zumindest eine finanzielle Entschädigung dafür. Das ist wie eine eigene Fußballversicherung, denn wenn der Rivale die WM nicht gewinnt, der versicherte Schadensfall also nicht eintritt, ist es ja auch kein Problem. Dann ist zwar der Einsatz weg, aber man hat weiterhin seine Fußballehre. Der zu investierende Versicherungsbeitrag, also Wetteinsatz, müsste demnach aber natürlich je nach Ehrgefühl höher oder niedriger ausfallen. Und wenn man auf diese Art und Weise alle Familienmitglieder mitversichert, kann bei der WM eigentlich nichts passieren. Immer schön auf Nummer Sicher gehen. Aber so sind wir Deutschen halt. +++


13. Juni 06
+++ Der Morgen beginnt ganz stilecht mit einem offiziell von der FIFA lizenzierten Nestlé-Knusperfrühstück aus dem Supermarkt für ca. 2,70 EURO. Das sind „fantastisch-magische Knusperbälle mit Vanillegeschmack!" Man muß einfach nur Milch zu den Knusperbällen geben und schon werden wie von Geisterhand auf den runden Kügelchen die zimtbestäubten Waben sichtbar. So steht es zumindest auf der Packung. In der Müslischüssel sind aber eigentlich nur gesüßte Zerealien und in der Packung nicht mal ein klitzekleines Fußballgimmick! So ein Ärger! +++ Ballacks Wade, die mittlerweile zum Nationaleigentum geworden ist, scheint wieder fit zu sein. Der Kapitän kann also morgen gegen Polen antreten. Aber irgendwie schien Ballack in den letzten Tagen zum Problem zu werden. Erst diverse Querelen mit Klinsi und gestern noch schlendert er mit nem Italien-Shirt von D&G durch die Gegend und stört damit laut BILD die schwarz-rot-GEILE patriotische Grundstimmung im Lande. Der Träger UNSERER aller Wade soll sich vorsehen! +++ Wer sich bis jetzt noch nicht wm-technisch mitreißen lassen hat, sollte endlich mal die diversen Festivitäten in der Stadt aufsuchen. Am besten gleich heute Abend auf die Fanmeile, denn wenn Brasilien in der Stadt spielt, veranstalten da tausende Nackte von der Copacabana mit Caipirinhas in den Händen eine riesige feuchtfröhliche Polonaise. Sowieso machen die ganzen Feste in den ersten Tagen der WM am meisten Spaß, denn dann ist da noch die große Euphorie von allen teilnehmenden Nationen zu spüren. Da kann man mit Angolanern und Schweden und Trinidad und Tobagoanern Arm in Arm „We are the Champions singen" und zum Weltfrieden beitragen. Man muss Feste feiern wie sie fallen - und das Fest ist jetzt! +++

14. Juni 06
+++ Endlich echte WM-Stimmung in Berlin: Kroatien gegen Brasilien im Olympiastadion. Die ganze Stadt rot weis kariert und gelbgrün dekoriert. Was für ein Spektakel! +++ Am Ku-damm haben hunderte Kroaten eine spontane Party gefeiert, lauthals Volkslieder gesungen und eine aufblasbare Plastiksexpuppe wie auf einem Feuerwehrsprungtuch in die Berliner Luft hüpfen lassen. Brasilianerinnen, in hautenge Tops und Strechhosen gepresst, so dass Venushügel und Zuckerhüte sichtbar wurden, applaudierten daneben. +++ Heute spielen unsere Jungs gegen Polen. Ein Sieg muss her, damit wir sicher in die nächste Runde kommen. Hoffentlich bleibt auch in der „dritten Halbzeit" alles friedlich, denn in der Hooliganszene sind die Polen „die Creme de la Creme, da hat jeder zweite eine paramilitärische Ausbildung." +++ Ein interessantes Phänomen ist zu beobachten: Die meisten Deutschlandfahnen sieht man erstaunlicherweise in Neukölln und Kreuzberg. Vor allem Türken schmücken ihre 3er BMWs mit wehenden schwarz-rot-goldenen Fahnen. Die WM schafft offenbar auch hier eine Identifikation mit Deutschland, wie kein Integrationsversuch vorher. Hip Hip Hurra! +++

15.Juni 06
+++ TSCHLAAAND, TSCHLAAAND, TSCHLAAAND! +++ Was für eine spektakuläre Schlussphase im Spiel TSCHLAAAND gegen Polen: Lattenschüsse, abgepfiffenes Abseitstor und dann in der Nachspielzeit durch Vorlage von Odonkor (10,4 Sekunden auf 100m mit Fußballschuhen) ein Ding von Neuville reingezimmert! Na, wenn das keine Beanspruchung der zu diesem Zeitpunkt schon durch Bier und Grillgut extrem verklebten Nerven war! +++ Das Achtelfinale ist so gut wie sicher! +++ Danach spontaner Autokorso auf dem Ku-damm mit winkenden Mädchen auf den Kühlerhauben und lebensgefährlich aus dem Fenster hängenden und mit Fahnen schwenkenden Alkoholisierten. +++ Aus aktuellem Anlass hier zwei sehr empfehlenswerte WM-Produkte: Einmal eine "Fußball Voodoo-Puppe", an der man je nach Bedarf die Länderfahnen des zu beschwörenden Gegners befestigen und dann mit spitzen Nadeln traktieren kann - sehr geeignet z.B. für die nächsten England- und Holland-Spiele. Und zum anderen ein sprechender Flaschenöffner, der bei der Berührung des metallenen Bierkronkorkens mechanisch plärrt: "Ihr könnt nach Hause fahren, ihr könnt nach Hause fahren!" Wohl wahr - in diesem Sinne: Prost! +++

16. Juni 06
+++ Männer und Frauen funken auf ganz unterschiedlichen Frequenzen - das weiß jede(r)! Beim Thema Fußball wird das ganz besonders deutlich: Wenn Jungs z.B. Paninibilder sammeln, dann geht es darum, das Heft so schnell wie möglich voll zu kriegen, sich die Geburtsdaten und Heimatvereine der Spieler einzuprägen und über Schussgeschwindigkeiten zu fachsimpeln (Netzer zu Delling: „150 km/h sind genau meine Kragenweite!"). Mädchen dagegen blättern mit ihren Freundinnen prüfenden Blickes in einem solchen Heft wie sonst nur in der Gala, Glamour oder Joy. Für Jungs sind Fußballer abstrakte Götter, für Mädchen sind das Sexobjekte aus Fleisch und Blut: „Schau mal den süßen Typen an, hat der einen tollen Body, quak, quak, quak…" Nun gut, nicht jeder Fußballer eignet sich für rosarote zuckersüße Mädchenträume mit Gänseblümchen obendrauf, aber jedes Turnier hat erfahrungsgemäß den ein oder anderen Mädchenschwarm. Bei der WM 2006 sind das natürlich vor allem - Trommelwirbel - Ljungberg (16-4-1977; 1,75m; 69 kg) und mal wieder Beckham (2-5-1977; 1,80m; 74 kg). Die sind nebenberuflich metrosexuelle Unterwäschemodels, zupfen sich die Augenbrauen, schminken sich vor dem Spiel und üben statt Elfmeterschießen lieber vor dem Spiegel ein aufgesetztes sexy Fotolächeln mit halbgeöffneten Lippen. +++ Insgesamt ist beim Fußballsport eine gewisse Verweichlichung zu erkennen. Man denke z.B. nur an die Entschuldigungen der Engländer nach ihrem schlechten Spiel gegen Paraguay. Da wurde gejammert, es sei auf dem Feld sooooo heiß gewesen oder die Blasen an den Füßen hätten ganz doll Aua gemacht. Menno! +++ Hallo? Fußballer müssen blutgrätschen, Gras fressen, in den Torpfosten beißen, mit ihren Matschbirnen das Leder in das Tor köppen, Fallrückzieher machen ohne Rücksicht auf die Frisur und Fingernägel, sie müssen schwitzen, triefen, transpirieren und aus jeder verdammten Pore zum steinerweichen stinken!!! +++

17. Juni 06
+++ Wo ist eigentlich GOLEO VI? Jetzt ist die WM schon eine Woche in vollem Gange, man hat spektakuläre Tore gesehen und es wurde über Vieles weltweit berichtet - nur unser aller Lieblingsmaskottchen scheint wie vom Erdboden verschluckt. Goleo, dieser zottelige Samson-Verschnitt ohne Hose aber mit Fußballschuhen und seinem sprechenden Ball namens Pille hat wahrscheinlich keine Lust mehr. Zu recht! Er hat die Schnauze gestrichen voll von all den Negativschlagzeilen im Vorfeld der WM. Was hat man dem armen Kerlchen nicht alles nachgesagt: Krebserregend soll er sein, wenn man sich sein plüschiges Fell stundenlang an der Haut reibt, sein Produzent musste noch vor Beginn der WM Insolvenz anmelden, weil ihn keiner haben wollte, und im offiziellen WM-Maskottchenvergleich hat GOLEO VI gegen Kollegen wie Chilischoten mit Sombrero auch nicht so gut abgeschnitten. Aber eines sollte man doch fairerweise festhalten: Wir Deutschen können noch viel durchgeknalltere Maskottchen entwerfen, die auch keiner haben will. Man denke mal bitte an den kleinen armseligen radioaktiv verstrahlten und missgebildeten „Twipsy" von der EXPO 2000! Aber egal, GOLEO hat keine Lust mehr auf die WM und ist einfach abgehauen. Er hat seine Sachen gepackt und streunt derzeit lieber verkleidet als „Bruno der Problembär" Meerschweinchen mordend und honigschleckend durch Bayern und Österreich. +++

18. Juni 06
+++ Was für ein spannender Fußball-Tag gestern! Mein lieber Scholli! Zum einen ganz großer Ballsport von der Mannschaft aus Ghana. Da saß jeder Pass wie aus dem Bilderbuch. Durch ihren Sieg gegen Tschechien haben sie ordentlich Spannung in die Gruppe E gebracht. Das ist der Stoff aus dem WM-Träume sind. +++ Zum anderen natürlich Italien gegen USA - ein Spiel so spannend und brutal wie bisher noch nicht bei diesem Turnier: Blutgrätschen, Body- und Ellenbogenchecks, blutige Nasen und drei rote Karten! +++ Das war beinahe kein Fußballspiel mehr, sondern streckenweise ein Gladiatorenkampf zur besten Sendezeit. Das Stadion in Kaiserslautern wurde zum Colosseum - panem et circenses! +++

19. Juni 06
+++ Überall Fanfeste in Deutschland! +++ Vor allem die Fanmeile in Berlin sprengt alle Rekorde: Hunderttausende aus aller Welt drängeln sich täglich auf der Straße des 17. Juni, so dass sie sogar noch ausgeweitet wird. Die Stimmung sollte man sich nicht entgehen lassen: eine Mischung aus Live8, Karneval der Kulturen und Loveparade. +++ Am Bierstand kann man herrlich in mehreren Sprachen lallen, sich interkulturell bei Toren in den Armen liegen und eine nicht enden wollende Polonaise veranstalten. +++ Man kann nebenan in der ADIDAS-Arena feiern, an monumentalen Bauwerken wie dem Brandenburger Tor und Reichstag vorbeischlendern, auf überdimensionale Fußballschuhe klettern, den Mondschein in der Spree und den illuminierten neuen Hauptbahnhof genießen und einfach BERLIN in sich aufsaugen. Wer diese Stadt bisher noch nicht ins Herz geschlossen hat, muss sich spätestens jetzt in sie verlieben. +++

20. Juni 06
+++ Berlin - Olympiastadion: Die deutsche Nationalmannschaft gegen Ecuador in der Hauptstadt. Was für eine Stimmung! Ein weiss-schwarzes Menschenmeer. Von oben sieht das Stadion wie eine leckere Geburtstagstorte aus, gespickt mit schwarz-rot-goldenen Fähnchen und blauem Zuckergussrand. Eine Laola nach der anderen wabert wie Wackelpudding durch die Ränge, und es ertönen lauthals lustige Fangesänge: DeutschEEEEland! DeutschEEEEland! Finale, Finale! Trommeln böllern und dazu schreien alle unisono ein markerschütterndes „Sieg!" +++ Bingo: 3:0 gewonnen, und Deutschland ist Gruppensieger. +++ Nun mögen alle Klinsi, haben ihn ganz doll lieb. Auch die, die vorher alles schlecht geredet haben, die Gummitwistübungen verabscheut, die us-amerikanischen psychologischen Trainingsmethoden abgelehnt und seine ständigen USA Aufenthalte verachtet haben. Nach den drei Siegen hat er jetzt offensichtlich alles richtig gemacht. Er ist unser aller Held - zumindest bis Samstag. +++

21. Juni 06
+++ Unser Gegner am Samstag heißt „Schweden" und die BILD fragt wortwörtlich „Vermöbeln wir jetzt auch die IKEA Kicker?" +++ Warum spielt Beckham bei den aktuellen Temperaturen eigentlich mit einem Longsleeve-Trikot? Fehlt nur noch, dass er sich nächstes Mal aus Stilgesichtspunkten eine Wollmütze auf den Kopf setzt und mit Moonboots aufläuft. +++ In einer Sache sind wir Deutschen sowieso schon Weltmeister, die uns ohnehin als Tugend attribuiert wird: „Planung und Organisation"! Das wird auch bei der Fußball-WM deutlich, da kann man wirklich nichts gegen sagen. Die modifizierten Straßenführungen und Umleitungen sind perfekt durchdacht, die Fanfeste sind bis aufs klitzekleinste Detail eventmäßig inszeniert, und überall laufen speziell geschulte „Service"- und „Informationsteams" mit lustigen Uniformen durch die Stadt, um den internationalen Gästen bei Fragen kompetent weiterzuhelfen. +++ Heute Nachmittag habe ich mir vorgenommen, durch die Stadt zu flanieren, mich dabei als Ghanaer auszugeben und eben diese Servicemitarbeiter auf virtuos genuscheltem englisch mit den absurdesten Fragen auf die Probe zu stellen. Von diesem Spaß werde ich dann morgen an dieser Stelle berichten. +++

22. Juni 06
+++ „Hello, ähhh, sorry, I´m from Ghana, can you show me the way to slash dot com, check it out, peace brothers, please?" WM-Servicemitarbeiter volllabern könnte neuer Trendsport werden. Das macht derzeit sogar noch mehr Spaß als Taxifahrer oder Bardamen zu belästigen und ist sogar noch viel besser als bei der Telefonauskunft anzurufen, in den Hörer zu stöhnen und dann kichernd aufzulegen. +++ Fußball gucken im „Schleusenkrug" ist ein ganz besonderes Erlebnis für alle Sinne. Während man an seinem Weizen schlürft (gustatorisch) und das Spiel auf dem Bildschirm anschaut (visuell), donnern Züge an einem vorbei (auditiv), so dass der ganze Körper erzittert und man sich an der Bierbank festhalten muß (haptisch), und vom ZOO her nimmt man Elefanten und Nilpferde wahr (olfaktorisch). +++ Ein besonderes Bild geht derzeit bei Argentinienspielen immer wieder um die Welt: Ein kleiner dicklicher Mann mit vertikal weiß-blau-gestreiftem Trikot hüpft und springt und jubelt überschwänglich wie ein Teletubbie auf der Tribüne im Publikum herum. Irgendwie ist dieser Anblick ein bisschen armselig und traurig - zumindest wenn man bedenkt, dass dieser Mann anno 1986 als der große Maradona mit Bällen gezaubert hat, wie kaum ein anderer. Der Träger der Hand Gottes darf doch da nicht so schnöde normal rumhampeln. Der soll da weg gehen, denn damit löst sich doch die Legende in Luft auf und jeder Zauber geht verloren. Das wäre doch genau so, als ob man Heidi Klum beim Popeln oder Beckham beim Kacken auf der Toilette sehen müßte. +++

23. Juni 06
+++ Wo sind denn nun die großen WM-Überraschungen, die Momente, die die ganze Welt verzücken, die zu Legenden werden und immer wieder aus den Archiven gekramt und am Stammtisch diskutiert werden? +++ Gestern sah es in der ersten Halbzeit beim Spiel Japan - Brasilien fast nach einer solchen aus, als Japan mit 1:0 in Führung ging. Aber dann wurde es doch noch ein Schützenfest seitens der Ballzauberer vom Zuckerhut, und die normale Fußballordnung wurde wieder hergestellt. +++ Das Weiterkommen von Ghana ins Achtelfinale ist bisher sicherlich der größte WM-Zauber. Ganz Ghana steht Kopf und feiert wie noch nie zuvor - logisch! +++ Ein höchst interessantes Phänomen ist hier zu beobachten: Wenn Underdogs gegen etablierte große Mannschaften gewinnen, bündeln sich bei ihnen von allen Seiten die Sympathien. Wenn der „Kleine" gegen den „Großen" gewinnt, wird die alte Ordnung erschüttert, festgefahrenen Strukturen werden aufgebrochen und der Status quo in Frage gestellt. Das ist so, wie wenn St. Pauli gegen Bayern München gewinnt - nur halt im viel größeren Stil. Wenn Ghana am 27. Juni gegen Brasilien spielt, dann ist das kein Fußballspiel mehr, das ist Revolution, Rebellion und Rock N Roll in einem! GO GHANA GO! +++

24. Juni 06
+++ Heute Nacht auf dem Rückweg von der WM-Disco, nach einer Currywurst mit Pommes Schranke bei „Curry 36" (mindestens 60 Minuten zusätzlich auf dem Crosstrainer bei 133 Puls), bin ich am Mehringdamm in eine zünftige Verfolgungsjagd hineingeraten: Ein durchgeknallter Freak brettert ohne Rücksicht auf Verluste über rote Ampeln, hinten dran kleben zwei dunkle Kombis mit Blaulicht. Eigentlich nicht der Rede wert, aber unter „WM-Ticker-Gesichtspunkten" insofern interessant, dass sowohl das flüchtende Fahrzeug als auch die Zivilpolizeiwagen mit den derzeit so begehrten Deutschlandfähnchen zum an die Scheibe klemmen geschmückt waren. Und das barg durchaus eine gewisse Komik, denn wenn sich jetzt sogar schon die Zivilpolizei mit den Dingern schmücken muss, um nicht aufzufallen und inkognito agieren zu können, dann wird der WM-Wahnsinn so richtig deutlich. +++ In wenigen Stunden geht es gegen Schweden um den Einzug von Deutschland ins Viertelfinale. Ab jetzt geht es um Alles oder Nichts; Himmel oder Hölle; jubeln oder weinen; Top oder Flop; Himmel hoch jauchzend oder zu Tode betrübt; Sekt oder Selters - wow, was für eine unerträgliche Spannung. +++

25. Juni 06
+++ Gott sei Dank: Durch den Sieg gegen Schweden noch mindestens eine weitere Woche bombige WM Stimmung im Lande! Jeder Tag zählt. +++ Was für ein fulminanter Spielstart: Poldi, die alte Hohlbratze, knallt in den ersten Minuten gleich zwei Dinger rein. Herrlich, und Deutschland tanzt die „Poldinaise" (BILD). +++ Doch bei den Spielen lohnt sich nicht nur ein gebannter Blick auf das Feld, sondern auch einer auf die Ränge: Egal, welches Spiel man sich in den letzten Tage auch angeguckt hat, der Kaiser Franz ist immer dabei. Wie macht der das bloß? Hat der eine Zeitmaschine und lässt sich immer von einem Stadion zum nächsten beamen? +++ Ein weiterer Gast auf der V.I.P.-Tribüne ist derzeit besonders putzig anzuschauen: unsere aller Kanzlerin Angie Merkel. Richtiggehend niedlich, wie sie fröhlich Duracell-Häschen-mäßig mit dem Oberkörper wackelnd in die Hände klatscht. +++ Auch sonst lohnt sich ein Blick ins Publikum: Der Kameraschwenk zeigte einen allein für „P1 Girlies" reservierten Luder-Block und zahlreiche lustige durchaus kreative Zuschauertransparente - z.B. das umgedichtete „Die Welt zu Gast bei Freunden" in „Freunde zu Gast beim Weltmeister" oder aber „Schweden, Geh-Heim-Favorit!" +++

26. Juni 06
+++ Zu Beginn einer neuen WM-Woche einfach mal so zum lockeren Einstieg eine interessante Zahl, die mal wieder die unglaubliche WM-Dimension plastisch veranschaulicht: 100.000 Liter Urin werden derzeit wohl täglich von den Fanfestmassen mal so eben in den Tiergarten entsorgt. Wenn man das mal auf die ganze Spielzeit der WM hochrechnet, dann sind das insgesamt ca. 3000000 Liter, die das kleine Ökosystem „Tiergarten" gerade zum Umkippen bringen. Fehlt nur noch, dass sich jetzt Greenpeaceaktivisten als Goleo verkleidet an Bierstände und Leinwände ketten, um auf das große kommende Waldsterben aufmerksam zu machen. +++ Beim Spiel der Portugiesen gegen die Hollis waren wieder viele herrliche Fiesheiten zu bestaunen. Dabei war sehr schön zu beobachten, dass das Foulen eines Mitspielers immer nach dem gleichen Muster abläuft: Derjenige, der foult, schaut, dass der Schiedsrichter gerade nicht guckt und abgelenkt ist, um dann seinen Gegenspieler mit quasi beiläufiger Gehässigkeit einen Ellenbogen ins Gesicht oder das gestreckte Bein ins Sprunggelenk zu ballern. Währenddessen werden die Arme schon prophylaktisch entschuldigend in die Höhe gerissen. Derjenige, der gefoult wird, versucht natürlich alles, damit der Übeltäter für diese Aktion möglichst hart bestraft wird. Daher schmeißt er sich - so theatralisch wie nur irgendwie möglich - zu Boden, verzieht das Gesicht schmerzverzerrt und hält sich krümmend jede Extremität, zumindest so lange, bis der Schiedsrichter den Übeltäter bestraft hat. Dann steht der Gefoulte wieder auf, und die Miene hellt sich blitzartig auf, als wäre alles doch nicht so schlimm gewesen. Schwieriger wird es, wenn sich die Rollen von Übeltäter und Opfer vertauschen, wenn sich nämlich ein Spieler ohne Foul simulierend zu Boden wirft, um aus rein egoistischer Strategie einen Vorteil zu erlangen. +++ Dieses Muster ist auch schon bei Kindergartenkindern bis zur Perfektion ausgebildet, z.B. wenn der eine dem anderen im Buddelkasten die Schippe oder das Förmchen wegnimmt und das große hinterhältige Kratzen und Beißen beginnt. +++ Aus diesem Anlass ein anerkennendes Hip Hip Hurra für jeden Berufsstand mit pädagogischer Ausrichtung - vom Schiedsrichter bis zur Kindergärtnerin! +++


27. Juni 06
+++ Bruno der Problembär ist tot. Nachdem er in den letzten Wochen von finnischen Jägerstaffeln mit Elitehunden und Wärmebildkameraaufzeichnungen aus Helikoptern nicht lebend gefangen werden konnte, ist er nun hinterrücks erschossen worden. +++ Tierschützer protestieren und fordern Politiker zum Rücktritt auf. +++ Der Fall könnte sich aber noch von einem regionalen zu einem weltweiten Politikum entwickeln - dann nämlich, wenn sich wie vermutet (vgl. Tickerbeitrag vom 17. Juni 06) nun bei einer Obduktion herausstellt, dass Bruno wirklich unser verkleidetes WM Maskottchen GOLEO VI war! Nicht auszudenken, welche Schadensersatzforderungen dann seitens der FIFA auf das Land Bayern zukommen werden. Gegen heimtückischen Maskottchen-Mord sind die bisherigen Lizenzverstöße ein Witz! +++ Bruno, alter Junge, R.I.P. +++

28. Juni 06
+++ Heute ist seit langem ein fußballfreier Tag, und man fragt sich ernsthaft, ob es überhaupt jemals ein Leben vor der WM gegeben hat. Unvorstellbar! +++ Unerträgliche, schmerzhafte Langeweile macht sich breit, zu der sich noch ein komisches Gefühl in der Magengegend gesellt - so eins, wie es sich immer einstellt, wenn man in ein großes soziales Loch fällt, z.B. wenn einen die Freundin verlassen hat oder alle Kumpels ohne einen in den Urlaub fahren. +++ Um Himmels Willen, was soll man heute und morgen denn bloß machen? +++ Nun ja, man könnte z.B. zu Hause selbst ein paar legendäre Partien nachspielen. Dafür braucht man lediglich folgendes Equipment: Ein kleines Plastiktor für Kinder bis 4 Jahre (im Spielwarengeschäft, ca. 8 EURO) und den offiziellen Miniatur Fußball von McDonald´s (5 EURO) - und schon kann es im Büro oder Wohnzimmer mit Kollegen oder auch alleine losgehen: vom Schreibtisch flanken, von der Couch einen Fallrückzieher machen, vom Kopierer einen Elfer schießen oder sich mit der Zimmerpalme ein Kopfballduell leisten. Und wenn man das auch wirklich engagiert und mit richtigem Körpereinsatz macht, kann man sich sogar ernsthafte Verletzungen zuziehen - ganz so wie die Profis. Ist das nicht toll? +++

29. Juni 06
+++ „Ohne Holland fahrn wir nach Berlin!" Fußballschlachtengesänge - insbesondere wenn gegen den Lieblingsrivalen gerichtet - sind fast immer gemein. In ihnen entladen sich sonst unterdrückte Animositäten und kanalisieren diese in Form kollektiven Gegröles in sozial akzeptierte Bahnen. Man will den Gegner ärgern, zur Weißglut bringen, aber nicht wirklich verletzen. Und dafür eignet sich beißender Spott und Hohn natürlich am besten. Wenn man aber aktuellen Medienberichten Glauben schenken darf, dann können wir Deutschen uns jetzt den Hollandspott angeblich sparen. Es soll unter ethnologischen Gesichtspunkten etwas ganz Besonderes passiert sein: Aufgrund der guten Stimmung im Lande, der als großartig empfundenen Gastfreundschaft und des plötzlich so ansehnlichen kreativen Fußballspiels des deutschen Teams, drücken die Hollis im weiteren Verlauf der WM nun wohl uns die Daumen. Hallo? Die Hollis auf der Seite der Deutschen? Das wird ja nach immer besser. Was kommt als nächstes? Vielleicht entschuldigen sich die Engländer noch für das Wembley-Tor? +++ Kofi Annan sollte sich für eine jährlich stattfindende Fußball-WM einsetzen - FIFA featuring UNO - dann hätten wir in ein paar Jahren Weltfrieden. +++

30. Juni 06
+++ Der Fußballfan an sich ist eine Spezies, die so (sozial)psychologisch und soziologisch komplex ist, dass sie an dieser Stelle natürlich niemals auch nur in Ansätzen erörtert werden kann. Aus heutigem aktuellen Anlass daher hier nur eine rein deskriptive Bestandsaufnahme des Phänotyps des deutschen WM Fans von Kopf bis Fuß: Zur grundlegenden Fanausrüstung gehören (natürlich alles in den Länderfarben Schwarz-Rot-Gold) lustige Perücken aus Polyester, unter denen man bei den derzeitigen Temperaturen herrlich schwitzen kann; das Gesicht wird mit Fanschminke farbig bemalt; um den Hals baumelt eine Trillerpfeife in Fußballform; der Premium-Fan trägt das aktuelle Trikot von adidas für 65 EURO in weiß, die Individualisten in rot, die Sparsamen das von der Telekom, und ganz Durchgeknallte malen sich eines selbst (natürlich schon mit vier Sternen über dem Adler!); in beiden Händen hält der echte Fan diese komischen aufblasbaren Plastikschläuche, die man zum Lärmen gegeneinander schlagen kann; in der Hosentasche steckt eine FCKW-Fanfare oder alternativ ein Honky-Horn, in das man reinpusten kann, wodurch dann ein lärmendes Tröten über zitternde Membranen ertönt; eine riesige Fahne wird wie ein Badetuch um die Schultern geworfen. +++ Das ist vor allem die männliche Standardausrüstung, die natürlich nach dem Motto „je mehr, desto besser" erfolgt. Bei den plötzlich richtig fußballbegeisterten Frauen gilt dagegen „weniger ist mehr": Nicht nur die übliche Luderfraktion, sondern auch die sonst so artigen und anständigen Einzelhändlerverkaufsassistentinnen und Käsewurstfachverkäuferinnen versuchen, so sexy wie möglich aufzufallen: zum Standardprogramm gehören Hotpants und hochgepresste Brüste, die mit „Poldi" oder „Frau Ballack" bemalt sind - ganz Verwegene sind sogar vollkommen nackt und lassen sich das Outfit lediglich per Airbrush auf den Körper sprayen. +++ Hoffentlich heute nicht zum letzten Mal! +++

zu Teil 2 der WM-Kolumnen