Prinz Pikkolos WM-Tagesticker 9.Juni - 10. Juli 2006
- tägliche Impressionen zur WM 06 in Deutschland -
(Teil 2)

01. Juli 06
+++ Mein lieber Scholli: Das war vielleicht ein spannendes Spiel. Nichts für schwache Herzen! Nervenflattern bis zum Elfmeterschießen, und dank Lehmanns „Händen Gottes" nun wieder eine Runde weiter. Wir haben einen neuen Torwart-Titan, und Maradona hat sich nun ausgetanzt auf den Tribünen Deutschlands - Tschööökoo! +++ Eben eine ganz witzige Situation: Mein Telefon klingelt, und an der anderen Leitung will mir ein Herr eines Telefonanbieters einen neuen Tarif aufquatschen. Sorry, kein Interesse, aber dennoch reden wir fünf Minuten miteinander. Zwar nicht über Tarife, sondern über unsere Fußballtipps, die Stimmung auf der Fanmeile, Bierpreise, Lehmann, Klose und Co. +++ Man sollte viel öfter mal mit Fremden einfach so telefonieren und die WM Euphorie teilen. Daher nehme ich mir jetzt ein Telefonbuch und wähle einfach mal ein paar Nummern. Eine sehr gute Idee! +++

02. Juli 06
+++ Gestern die anderen beiden Viertelfinalspiele. Frankreich und Portugal sind weiter, Brasilien und England (auf die ist beim Elfmeterschießen ja seit jeher Verlass) raus. Nun ist nur noch das alte EUROPA in der WM vertreten. +++ Beim Fußballgucken wird derzeit ein technisches Problem der digitalen im Vergleich zur analogen Fernseh-Übertragung deutlich: Durch die Umrechnung der Signale kommt es zu einer minimalen zeitlichen Verzögerung, die sich gerade bei den nervenaufreibenden Elfmeterschießen sehr zu Ungunsten der DVB-T-Adapter-Besitzer auswirkt. Sehr ärgerlich, wenn die Nachbarn mit ihrem Kabelanschluss schon jubeln oder weinen und man selbst den Spieler erst noch den Ball zurechtlegen sieht. +++ Warum müssen große Fußballer, Legenden und Lichtgestalten alles dran setzen, bei großen Events ihre Würde zu verlieren? Maradona hüpfte wie auf Speed und Crystal auf Tribünen herum, und gestern musste sich jetzt auch noch der große Pelé blamieren: Singend, tanzend und in die Hände klatschend kam er ins ZDF-WM Studio und gab eine nicht enden wollende Performance mit mehreren brasilianischen Gutelauneliedern. Es hätte nur noch gefehlt, wenn er als Zugabe gesungen hätte: „Ein bisschen Spaß muss sein!" +++

03. Juli 06
+++ Wieder ein Tag ohne Fußball. Endlich mal Zeit, ein paar wichtige Dinge aufzuarbeiten! +++ Vor allem die Prügelei nach dem Spiel Deutschland vs. Argentinien auf dem Spielfeld: Rudelbildung, Kopfnüsse und ein paar anständige Tritte. Was für ein Skandal, der um die Welt geht. In Anlehnung an den pädagogisch angehauchten Beitrag vom 26. Juni 06 - der Fußballer und Budelkastenkindern assoziativ verbunden hat - aber vollkommen verständlich. Verlieren ist halt sehr unschön und nicht gut für die persönliche Entwicklung, und wenn man dazu noch sehr erschöpft ist, dann kann man evolutionstheoretisch entweder flüchten, sich totstellen und weinen oder eben die Aggressionen rauslassen. Während die Europäer sich immer ganz verweichlicht auf den Boden schmeißen und bitterlich weinen, scheinen andere Teams halt ihr so berühmtes südländisches Temperament frei heraus zu lassen. Das konnte man auch besonders schön bei dem legendären Qualifikationsspiel Schweiz gegen Türkei sehen. Da gibt es dann halt schon mal einen gezielten saftigen Tritt mit noppigen Fußballschuhen in die Weichteile - aber die meinen das eigentlich gar nicht so, die wollen nur spielen! +++ Brasilien ist raus! Das Ausscheiden der Favoriten ist schon eine kleine Überraschung. Alle beschweren sich wegen der enttäuschten Erwartungen: statt Ballzauber garniert mit Zuckerhut nur arrogante und dicke Buben. Aber irgendwie auch nicht so schlimm, der ganze Gutelaune-Trommel-Caipirinha-Stringtanga-Silikonbrüstekram ging mittlerweile schon gehörig auf die Nerven. Da lobt man sich doch noch eine ordentliche Mischerei auf dem Spielfeld. +++

04. Juli 06
+++ Heute um 21 Uhr der Klassiker Deutschland vs. Italien. Bis dahin ein kindliches prickelndes Gefühl in der Magengegend, so wie ein Tag vor Weihnachten, so wie vor dem ersten Kuss, so wie ein Tag vor den großen Sommerferien! +++ Heute zu arbeiten ist unmöglich, lieber das Trikot noch einmal bügeln und die doppelten Paninibilder sortieren. +++ Die Frage ist nur: Wo das Spiel schauen? „Public viewing", privates Fußballgucken und grillen oder alleine vor dem Fernseher rumhängen? Alles laaaaaaaaaaaannnngggwweeiiiiillllllliiiiiiiiiiiiggg! Hier der ultimative Tipp für heute Abend: Einfach mit der obligatorischen Fanausrüstung (vgl. Tickerbeitrag vom 30. Juni 06) in die Pizzeria um die Ecke gehen (wichtig: muss wirklich von Italienern bewirtschaftet werden, nicht von Arabern oder Türken!), den besten Platz vor dem kleinen Personalfernseher sichern und dann um genau 21 Uhr ein mehrgängiges Menü mit 1000 Extrawünschen bestellen. Ab und zu mal ins Honky-Horn blasen und immer schön in Form von BILD Zeitungsüberschriften das Spiel kommentieren wie z.B. „Mamma mia, werden wir Euch wegnudeln!" +++ Das wird ein Spaß, von dem morgen an dieser Stelle berichten werden soll - sofern ich bis dahin nicht mit den Füßen einbetoniert im Schlachtensee versenkt worden bin. Arrivederci! +++

05. Juli 06
+++ Heute morgen ein ganz komisches Gefühl im Magen, vergleichbar mit einem dicken Kater nach durchzechter Nacht oder einem Tritt in die Weichteile, wenn der Schmerz durch die Leiste zieht - hoffend, dass alles doch nur ein böser Traum ist und es gleich wieder so sein kann wie vorher. Mit dumpfem Kopf und schwerem seufzendem Herzen bittet man aufzuwachen. Aber nein, es ist vorbei, durch zwei tragische Tore der Italiener in den letzten Minuten der Nachspielzeit. Die alltagstheoretische Suche nach Schuldigen (z.B. Merkel, weil sie ein grünes statt ihres lachsfarbenen Kostüms getragen hat) bringt nur oberflächlichen Trost, zu tief sitzt die Ernüchterung nach der drei Wochen langen Party. Das ganze Land war high, wir alle hatten einen euphorischen Trip und liefen bei strahlendem Sonnenschein mit einem Grinsen wie die durchgeknallten ACID-Smiley-Pillen des „WM 2006 Deutschland Logos" durch die neu entdeckte Heimat. Mit jedem Erfolg wollten wir mehr und mehr, und alles schien plötzlich möglich. Was für ein rauschhafter Traumzustand, aus dem wir hedonistischen Junkies gestern Nacht plötzlich jäh herausgerissen wurden. Man könnte jetzt natürlich sagen, dass es das spannendste Spiel der WM war, dass Deutschland in jeder Hinsicht überzeugt und überrascht hat - aber das will im Moment ja niemand hören! +++

06. Juli 06
+++ Heute Nacht habe ich geträumt, dass das Wetter wieder schlecht ist, es in Strömen regnet, dass alle ihre Fahnen abgenommen, ihre frustrierten miesepetrigen Mienen wieder aufgesetzt haben und die Welt nicht mehr zu Gast bei Freunden ist. Angstschweißgebadet habe ich aber feststellen müssen, dass das wohl Gott sei Dank vorerst nur ein Alptraum war. +++ Wir sind Papst! Ich will aber lieber weiterhin Deutschland sein und Weltmeister werden! Daher habe ich mir ein Transparent gebastelt, mit dem ich mich am nächsten Sonntag vor das Olympiastadion stellen werde: „TAUSCHE PAPST GEGEN WM-TITEL!" +++ Mal schauen, vielleicht lässt sich ja jemand drauf ein, und wenn ich ganz großzügig bin, packe ich noch ein paar doppelte Paninibilder drauf. Es besteht also noch Hoffnung, Kopf hoch! +++

07. Juli 06
+++ Tatatatatataaaa und Trommelwirbel: Heute endlich die schon seit langem fällige Ode an PANINI! +++ Das Sammeln von Panini-Bildchen war für viele ein ganz wichtiges WM-Ritual. Es diente einerseits der professionellen Vorbereitung auf das Turnier (Name der Spieler, Geburtstag, Geburtsort, Größe, Gewicht, Heimatverein), und gleichzeitig wurde mit jedem neuen Bildchen die Vorfreude auf das WM-Spektakel gesteigert. Der symbiotische Duft aus leichtem Plastik und gedruckter Farbe beim Aufreißen der schmalen blauen Päckchen ließ längst vergessene Kindheitserinnerungen wieder erwachen (z.B. an Mexiko 1986). Ein großartiges Gefühl, wenn die Seiten des Paniniheftes durch immer mehr eingeklebte Bilder mit der Zeit schwerer wurden. Das Hoffen auf silberne Wappen, Stadien, potentielle Turnierstars oder die „Calciatori-Sonderbriefmarke", das ständige Blättern in dem Heft, das Eintragen der Spielergebnisse, das Führen einer Liste mit den fehlenden Bildern in einer professionellen Excel-Datei, das Rückwärtssortieren der Doppelten (vor allem Holländer!!!), knallharte Tauschverhandlungen mit Kollegen oder Freunden und das pedantische millimetergenaue Einkleben der Bilder war eine schon fast heilige tägliche Zeremonie. Zugegeben - ein nicht ganz billiger Spaß. An der Preisentwicklung von Paninibildpäckchen kann man herrlich volkwirtschaftliche Entwicklungen der letzten Jahre ablesen. Während man damals noch für ein paar Pfennige eine Packung bekam, muss man heute 50 Cent (1 DEUTSCHE MARK!) für fünf Bildchen hinblättern. Mein lieber Scholli. Das können sich die Schulkinder der Nation heute doch eigentlich gar nicht mehr leisten, wenn sie nicht nach den Hausarbeiten ihr Taschengeld als Dealer aufbessern. Kann uns Erwachsenen aber ja auch egal sein. Zugegebenermaßen hat es sogar manchmal ein bisschen Spaß gemacht, die kleinen Bengel in den Lotto- und Zeitungsgeschäften ein wenig zu ärgern, wenn man einfach mal locker vor deren Augen einen ganzen Kasten Bilder weggekauft hat, während die ihr Taschengeld der letzten Monate für zwei Packungen zusammenkratzten. +++ Als echter Panini-Fan konnte man sich bei www.mypanini.com sogar sein eigenes Bild mit Wappen und Trikot und Namen zusammenstellen und frisch gedruckt aus Modena nach Hause schicken lassen. Damit wäre man damals der König des Schulhofes gewesen, aber auch heute hat man damit jedes Mädchen rumkriegen können - wirklich wahr! +++ Irgendwie verspürt man heute beim Durchblättern des Heftes ein bisschen Wehmut. In drei Tagen ist die WM und damit auch das leidenschaftliche Paniniprojekt offiziell beendet. Das Heft wird dann irgendwo ins Bücherregal gestellt, aber irgendwann wird man es wieder in Händen halten, wie in einem Tagebuch darin blättern und sich an das große Spektakel „WM 2006 in Deutschland" erinnern… +++

08. Juli 06
+++ Heute das letzte spielerische Spektakel mit deutscher Beteiligung: Das Spiel um den dritten Platz. Das „kleine Finale" muss für Sportler eine unerträgliche Schmach sein - so ähnlich wie wenn unter 18jährige beim Eintritt in die Disco den Ausweis abgeben müssen, und dann um 0 Uhr, wenn die Großen feiern kommen, nach Hause gehen müssen. Zahlreiche Spieler sind verletzt: Ballack, Borowski und Mertesacker haben Entzündungen an Sehnen, am Knie oder Schleimbeutel (was um Himmelswillen ist ein Schleimbeutel?). Ob die Jungs auch verletzt wären, wenn es morgen ins Finale gegangen wäre? +++ Aber darum geht es jetzt ja nicht mehr: Es ist eine große Abschlussparty, bei der noch einmal herrlich ausgeflippt werden kann. Ein letztes Mal große WM-Symbolik: schwarz rot goldene Fahnen schwenken, Deutschlandrufe, überall große Gesten (Kahn darf heute dank seines tadellosen Verhaltens ins Tor), und alle haben sich ganz doll lieb! +++ Hier noch ein grundsätzlicher Tipp: Ebenso wie man keine Lollis von Fremden annehmen sollte, sollte man derzeit bloß nicht gegen scheinbar herrenlos herumliegende Bälle kicken, denn irgendwelche anarchistischen Globalisierungsgegner oder durchgeknallte Trash-Performancekünstler haben sich den köstlichen Spaß erlaubt und in der Stadt mit Beton gefüllte Fußbälle verteilt. Wenn man da mit ordentlichem Anlauf gegenkickt oder mit Schmackes einen Kopfball versucht, dann hat man bestimmt nicht nur eine Schleimbeutelentzündung. +++

09. Juli 06
+++ Gestern das „kleine Finale" gegen Portugal - zappzarapp mit 3 zu 1 souverän gewonnen, und der dritte Platz hat doch Spaß gemacht. Anschließend großes Feuerwerk und überschwappende Emotionen. +++ Auf dem Ku-damm überall fahnenschwenkende Menschen und sämtliche Fußballsongs in der Endlosschleife. Ein alleinreisender Italiener ist sehr mutig oder betrunken oder beides, steigt „Forza Azzurri" singend in einer Horde kleiner dicker deutscher Fußballfans auf ne Bierbank, die ihn lautstark als Pizzalieferant titulieren - aber alles ganz anständig und friedlich. +++ Die Stadt bricht heute aus allen Nähten: großer Auftritt der von letzter Nacht verkaterten Nationalmannschaft vor fast 1 Millionen Menschen auf der Fanmeile und um 20 Uhr das große Finale im Berliner Olympiastadion. Gänsehautbilder garantiert, die um die Welt gehen werden. +++ In Anlehnung an die Tickerbeiträge vom 17. und 27.06. lässt sich gegen Ende der WM das Rätsel um GOLEO VI endlich gänzlich auflösen! Eins steht seit gestern nämlich ganz sicher fest: GOLEO war NICHT Bruno der Problembär! Jedem - der die Nachberichterstattung des Spiels im ZDF gesehen hat - muss es wie Schuppen von den Augen gefallen sein: Thomas Gottschalk ist GOLEO, es kann nicht anders sein! Diese zauseligen Locken haben ihn überführt. GOLEO lebt - Gottschalk sei Dank! +++

10. Juli 06
+++ Italien ist Weltmeister nach Elfmeterschießen gegen Frankreich. Na ja, Fairplay, daher ein zerknirschtes „Herzlichen Glückwunsch", auch wenn es wirklich schwer fällt, weil die a) unseren Finaltraum verdorben haben und b) jetzt vier Sterne auf dem Trikot haben - und da hört der Spaß eigentlich auf. +++ Die wohl monumentalste Szene war der Kopfstoß von Zidane gegen den Brustkorb von Materazzi und der damit verbundene tragische Abgang eines großen Fußballers. Was wird Materazzi wohl Mieses gesagt haben, so dass aus Zizou, dem kleinen geschmeidigen weißen Kätzchen, ein Amok-Zidane wurde? Die Taubstummen dieses Landes werden diese Szene in den nächsten Tagen anhand von Lippenbewegungen in Grossaufnahme und Zeitlupe bis ins kleinste Detail analysieren. Vermutlich hat er ihn als „dummen August" oder „Blödian" beschimpft. +++ Ab heute ist die WM vorbei. Vier Wochen Fußball garniert mit sympathischem Patriotismus, Sonnenschein und Konfetti sind zu Ende gegangen. Es war eine großartige durchgehend andauernde Party mit fröhlichen Gästen aus aller Welt, ein perfekt organisiertes, euphorisches, friedliches Event der Extraklasse, bei dem Deutschland eine sensationelle Visitenkarte abgegeben hat und eindrucksvoll gezeigt wurde, dass wir ein ganz entspanntes Völkchen sind. +++ Hoffentlich hält die Stimmung im Lande noch ein wenig an, auch dann, wenn alle verkatert realisieren, dass in den letzten vier Wochen unter dem Deckmantel der WM-Fröhlichkeit diverse Steuern und sonstige Beiträge erhöht wurden und es weiterhin genau so viele Rütlischüler wie vorher gibt. +++ GO TSCHLAAAAAANNNDDDDD GOOOOOOO! +++

Der letzte Tick
+++ Damit tickt hier heute an dieser Stelle auch zum letzten Mal Prinz Pikkolos WM-Tagesticker, wo sich in den letzten Wochen rückscrollend doch eine ganze Menge köstliche Impressionen angesammelt haben: sozialpsychologische Abhandlungen über sich schminkende Fans und ihre Feste, Paninibildsammler und wiederentdeckte Kindheitsträume, absurde FIFA-Merchandisingprodukte, kickende Mädchenschwärme und nackte Brasilianerinnen, todsichere Fußballversicherungen und Tauschgeschäfte (z.B. Papst gegen WM-Titel). Besonders stolz können wir vor allem auf die sensationellen Enthüllungen über Pelés Verwandtschaft mit Roberto Blanco und GOLEOs mehrfache Identitäten sein, die hier weltexklusiv präsentiert werden konnten.
Vielen Dank, ein dreifaches Hip Hip Hurrra, und bis zum nächsten Spektakel!
Prinz Pikkolo (prinz@helden-der-nacht.de) +++
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