Maerz-Kolumne
                              Die März-Kolumne - der Frühling erwacht

Frank Wedekinds Frühlingserwachen; 1. Akt,  2. Szene:
Moritz: Hast du sie schon empfunden?
Melchior: Was?
Moritz: Wie sagtest du?
Melchior: Männliche Regungen?
Moritz: M-hm.
Melchior: Allerdings!
Moritz: Ich auch.

Endlich ist es soweit! Die ersten Sonnenstrahlen massieren das Gemüt. Die Frühlingsgefühle spielen verrückt und erotische Emotionen purzeln plötzlich durcheinander. Daher wird es Zeit, das Frühlingsphänomen einmal genauer zu betrachten. Und da hier - wie so oft - Theorie und Praxis stark auseinander zu fallen scheinen, soll im Folgenden auch zwischen Traum (Teil 1) und Realität (Teil 2) differenziert werden.


Teil 1: Frühlingstraum
Das Herzchen pocht in der Brust. Unmengen von Testosteron und Östrogen werden in diesen ersten Frühlingstagen ausgeschüttet. Stündlich werden die Röcke kürzer, die Beine länger und die Lebenslust größer. Zarte Haut bräunt unter den ersten Sonnenstrahlen und selbst die größten Feinschmecker hegen plötzlich gute Vorsätze, ihre Gourmet-Plauzen in ein Sixpack zu modellieren.

Erotische Wallungen überkommen einen und schwappen über. Man möchte am liebsten 24 Stunden lang Champagner aus einem bezaubernden Bauchnabel schlürfen und den Lebensakku durch fröhliche Oden auf den Frühling aufladen. Das Herz tiriliert, und während die ersten Knospen aufgehen und alles um einen herum zu sprießen beginnt, will man sich in die ganze Welt verlieben. Wenn man sich dann vollkommen von allen vergangenen winterlichen Verkrampfungen befreit hat und sich hemmungslos dem Frühlingsgefühlsrausch hingibt, hat man das Paradies ganz nah vor Augen: Frühlingsfeen mit lasziv lüsternen Lippen füttern einen mit Weintrauben, und die besten Freunde haben sich bei herrlichem Wetter um ein loderndes Osterfeuer versammelt und grillen große saftige Steaks, so daß süßer Barbecueduft in der Luft liegt. Dazu fließt kühles Bier endlos aus einem Stein und gleich nebenan sprudelt für die Mädchen mit einer großen Fontäne „Pinot Grigio" aus einem Brunnen.

Aber damit noch lange nicht genug: gegrillte Wachteln singen einen Kanon, kitschige Oster-Bunnies schlüpfen aus dem Ei wie in der „West" Zigaretten Reklame, und ein „Lila Milka Schmunzelhase" hoppelt wie im Drogenrausch mit einem gefüllten „Smarties-Klapperhasen" über eine saftige Wiese. Fröhliche Familien feiern ihre private Loveparade, während emsige Lakritzschnecken durch Wald und Flur kriechen und eine Spur aus klebrigem „Red Bull" hinter sich herziehen.

Aber im Frühlingstraum kommt es noch viel verrückter: Schmetterlinge und Bienen laben sich volltrunken an klebrigem Blumennektar, zufriedene Freilandhühner spielen „Einkriege-Zeck" auf einer saftigen Wiese, und von dem zirpenden Vogelgezwitscher wird allen ganz blümerant zumute, so daß man sogar den Osterhasen auf Ecstasy über einen heterosexuellen Regenbogen torkeln sehen kann. Am Horizont schippern putzige Insekten in einem Marmeladenbrötchen mit einem Segel aus weißem Trüffel über einen See voll Vanilleeis mit heißen Himbeeren. Alte gehen auf Zuckerstangen gestützt spazieren, während schöne Modells - garniert mit süßer Sahne - nackt und singend auf einem Sonnenblumenfeld in einem Kreis tanzen...

SEUFZ, leider sieht der Frühling so aber nur in der blumigen Phantasie...


Teil 2: Frühlingsrealität
Nun aber mal weg mit der rosafarbenen Brille, um das Phänomen des Frühlings aus der brutalen ehrlichen unverklärten Sichtweise der Realität zu betrachten: Sobald die ersten Sonnenstrahlen hervorblitzen und das Thermometer nur 1 Grad über Null anzeigt, spielen alle verrückt! Die Menschen fluten wie von Sinnen in T-Shirts die Biergärten und Cafés und prügeln sich um die sonnigsten Plätze. Da werden dann „Radler", mit Frostschutzmittel gepanschte Weißweinschorlen und abgestandene Weizenbiere zu Wucherpreisen bei überforderten Bedienungen bestellt, als ob es kein Morgen mehr gäbe. An Feiertagen wächst der Streßfaktor natürlich exponentiell, denn da will ja plötzlich die ganze Stadt auf einmal den Frühling genießen und die Ausflugsziele überschwemmen. Erholung ist dann selbstverständlich unmöglich, wegen all der genervten Familien mit quengelnden Kindern, überfüllten Parkplätze und Reisebusse mit Milliarden von fotografierenden Touristen. Und weil man im April innerhalb von Minuten mit unglaublichen Wetterumschwüngen (von Hagel über Monsunregen bis tropische Hitze) rechnen muß, darf man bei einem Ausflug ein ganzes Kleidersortiment von Badehose bis Daunenjacke dabei haben.

Auch die Osteridylle sah in der Realität natürlich ganz anders aus. Man denke z.B. nur an die vielen mit chemischen Farben verzierten Ostereier, welche von totunglücklichen Hühnern aus Legebatterien produziert wurden oder an all die mit Buttertrüffel gefüllten Schokoeier und Feiertagsspeisen die systematisch die Leber verfetteten. Leb wohl du schöner Waschbrettbauch, und das, obwohl die Bikinisaison doch mit jedem Tag näher rückt! Ein weiteres unerklärliches Phänomen sind die absurden Hamsterkäufe vor den Feiertagen. Obwohl die Geschäfte nur einen einzigen Tag zusätzlich geschlossen haben, kaufen die Menschen kopflos Konserven, Trockenmilch und andere Lebensmittel, als ob sie einen Atomkrieg erwarten.

Die Grausamkeit des Frühlings spiegelt sich natürlich auch im Verkehr wider. Hobbyradler holen gierig ihre staubigen Fahrräder aus dem Keller und brettern wie Kamikazepiloten durch enge Fußgängerpassagen, und die Motorradfahrer haben anscheinend den ganzen Winter nur darauf gewartet, ohne Rücksicht auf Verluste durch die Stadt zu brausen. Am schlimmsten aber sind die dilettantischen neureichen Sonntagsfahrer, die ihre Cabrios mit geöffnetem Verdeck selbst bei eisiger Kälte Schaufahren müssen oder die Halbstarken mit Goldkettchen, die mit geliehenen SIXT-Sportwagen an jeder Ampel ihre Männlichkeit beweisen müssen.

Die sagenumwobenen Frühlingsgefühle lassen sich am besten während eines Stadtbummels bei schönem Wetter erforschen. Schnell wird einem dabei klar, daß die romantischen erotischen Frühlingsphantasien überhaupt nichts mit der Realität zu tun haben. Diese Jahreszeit bringt vor allem eins mit sich: ganz gigantisch große Geilheit! Alles ist überfüllt mit lüsternen Böcklingen und wandelnden Hormonbomben, die kurz vor der Explosion stehen. An jeder Ecke pfeifen Kerle - so läufig wie Kampfhunde - dreist allem hinterher, was zwei Beine hat und einen kurzen Rock trägt. Spanner starren, geifern, sabbern, lechzen um die Wette, rastlos auf der Suche nach Geschlechtsverkehr.

Leider sind zarte Frühlingsfeen fast nirgends zu sehen. Dafür aber viele aufgestrapste Hauptschulrummeltussies mit Buffalos, in hautenge Kleider gepreßte Dicke und eine Menge unrasierte Beine, die natürlich zu allem Überfluß auch noch in Hotpants stecken müssen.

Aber damit noch nicht genug! Selbst der Genuß eines großen Mövenpick-Eisbechers in der Frühlingssonne wird einem verdorben, weil man ständig eine achtsame Hand an seinem Portemonnaie haben muß, bevor es ein anderer tut. Schließlich hat sich da um einen herum beachtlich viel kriminelle Energie angesammelt. Es scheint, alle Irren der Stadt haben zum ersten Mal in diesem Jahr Ausgang. Hütchenspieler, Taschendiebe, Sektenanhänger, Drogendealer, Menschenhändler und mysteriöse Jugendliche (wahrscheinlich solche, die regelmäßig bei der KISS FM „Fuck-You-Hotline" anrufen) kommen bei den ersten Sonnenstrahlen aus ihren Löchern.

Zum Schluß noch kurz ein paar weitere Gründe, warum der Frühlingstraum leider durch die grausame Realität entzaubert wird: widerliche Spaziergänge in freier Natur, weil tausende Haufen Hundekacke bei der ersten Wärme bestialisch zu stinken anfangen; Unmengen von Insekten, die einen halb tot stechen oder blutleer saugen; Augen, die durch den Heuschnupfen so stark angeschwollen sind und triefen, daß man kaum noch geradeaus gucken kann...

Die Liste ließe sich natürlich noch unendlich fortsetzen, aber dann würde einem die Lust am Frühling wahrscheinlich vollends vergehen. Daher ist hier jetzt besser Schluß!

Prinz Pikkolo, Ende März 2002.