Kolumnen 2004
                                               Berliner Verkehrs-Betriebe

Seit längerem schon jagt in der Presse ein BVG-Skandal den nächsten: von Berichten über unangemessen hohe Vorstandsgehälter bis hin zu Meldungen, daß aufgrund zu hoher Wartungskosten an manchen Stationen solch großartige technische Errungenschaften der westlichen Zivilisation wie automatische Rolltreppen abgebaut und durch steinzeitliche Steintreppen ersetzt werden sollen. Aber seit dem ersten April kommt es nun ganz dicke: Es gibt ein neues Preissystem mit saftigen Aufschlägen und diverse abstruse Regelungen (z.B. nur noch vorne im Bus einsteigen oder mit einem Ticket ausschließlich in eine Richtung fahren).

All die Skandale und all das Gejammer sind Grund genug, das Berliner Sorgenkind BVG mal etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Also sucht man einen beliebigen S-Bahnhof der Stadt auf, kauft sich an einem Bahnhofskiosk eine BILD-Zeitung und zieht sich an einem Automaten auf dem Bahnsteig eine Tageskarte - bzw. versucht es zumindest, denn man muß erstaunt feststellen, daß dieser neue Fahrscheinautomat mit buntem Touchscreen und tausend Funktionen - im Vergleich zu den klapprigen Dingern vor ein paar Jahren - doch recht komplex ist. Für die Bedienung sind zumindest Grundkenntnisse in MS Office, Basic, Pascal und C + + nötig. Nach ein paar Minuten hat man es endlich geschafft, für 6 EURO einen Schein zu ziehen, doch die alte 90jährige Oma, die die ganze Zeit hinter einem wartet, tut einem etwas leid, denn ihr maximal technisches Know-how besteht mit Sicherheit darin, ein Telefon mit Wählscheibe zu benutzen…

Der Zug fährt ein. Was für eine Spannung es doch jedes Mal wieder ist, schließlich wollte man damals so gerne Lokomotivführer oder S-Bahnfahrer werden. Um das Schauspiel so richtig zu genießen, geht man ganz nahe an den Bahnsteigrand und beugt sich hervor. Sogleich wird man jedoch durch die schnarrende Lautsprecheranlage von einem griesgrämigen Herrn in blauer Uniform vor einem versifften Häuschen zurückgerufen. Das ist aber vielleicht auch besser so, denn in unmittelbarer Nähe steht ein mit leerem Blick dreinguckender Typ, der mit seinem Oberkörper immer so komisch vor und zurückwippt und endlosschleifenmäßig murmelt: „Wir kriegen Euch alle, wir werden Euch alle kriegen!" Also geht man lieber ein paar Schritte zurück, bevor der einen nachher noch auf die Gleise schuppst.

Dann hält der Zug mit einem Quietschen im Bahnhof. Wow, die Türen öffnen sich auf Knopfdruck wie bei Raumschiff Enterprise mit einem leichten „Swwwww-Sound". Und wenn man die Tür wieder schließen möchte, braucht man ebenfalls nur auf einen Knopf zu drücken und schon leuchtet eine rote Lampe auf, und es ertönt ein lautes Signal: „Ouiouioui!" Das findet man so toll, daß man das die ganze Zeit, solange der Zug noch im Bahnhof steht, ausprobiert. Auf (swwwww), zu (ouiouioui), auf (swwwww), zu (ouiouioui), auf (swwwww), zu (ouiouioui), auf (swwwww), zu (ouiouioui)… Bis ein Malerlehrling (gekleidet in einen bekleckerten Overall und mit einer Dose Hansa-Pils in der Hand) brüllt: „Alter, jeht´s Dir noch oder willst Du eens aufs Maul! Mach dit noch eenmal und es knallt!"

Man lässt also von den Türknöpfen und denkt kurz darüber nach, ob es im Jahre 2004 eigentlich noch die Zunft der S-Bahnsurfer gibt. Damals in den frühen 90ern konnte man die Abteiltüren doch noch mit Leichtigkeit aufreißen, sich während der Fahrt heraushängen und den Wind spüren. Ja, das war fein! Schade, damit ist es jetzt vorbei, aber vielleicht wird dieser entscheidende Nachteil der technischen Evolution durch den nicht zu unterschätzenden Vorteil ausgebügelt, daß man des nächtens auf gruseligen Strecken nicht mehr von irgendwelchen Banden aus dem Zug geschmissen werden kann. Vielleicht.

Man setzt sich auf eine bunt gepolsterte Sitzbank und breitet die BILD aus. Gerade als man genüsslich die „Post von Wagner" lesen möchte, passiert das, was in der Bahn passieren muß: Der Typ neben einem versucht, krampfhaft unauffällig mit schielenden Augen in der Zeitung mitzulesen. Dabei rückt er einem stetig so nahe, daß man unweigerlich feststellen muß, daß er gestern Tsatsiki, frischen Pansen und Harzer Käse gegessen haben muß. Also rollt man die Zeitung wieder ein und betrachtet stattdessen die Leute.

Schnell wird einem klar, daß Bahnfahren so ähnlich ist, wie ins Off-Theater zu gehen. Die Bühne des Lebens in einem Wagon, eine Inszenierung des alltäglichen Wahnsinns. Was für eine Szenerie: Verkäufer von Straßenmagazinen stolpern flehend durch das Abteil; Menschen schreien in ihre Mobiltelefone, so daß man ungewollt detaillierte Einblicke in ihr Privatleben bekommt („Ich komme etwas später, denn der Arzt hat Feigwarzen bei mir attestiert."), und plötzlich ertönt eine Stimme: „Liebe Fahrgäste, ich bin nicht aidskrank, ich bin auch nicht obdachlos und werde auch nicht vom CIA gesucht, ich wollte nur fragen, ob irgendjemand von Ihnen vielleicht eine Zigarette für mich hat." Szenenapplaus! Und den Soundtrack dazu liefern Studenten aus dem Ostblock, die mit Flöten, Gitarren und klimpernden Cafébechern musizierend durch die Reihen ziehen.

An der nächsten Station steigen drei sehr ungepflegte Männer ein. Das sind bestimmt Alkoholiker, die sich in Kürze im Abteil erbrechen werden, denkt man bei sich. Doch dann das Unmögliche: Sie rufen „Die Fahrkarten bitte!" Wow, was für ein großartiges Konzept! Wirklich keine schlechte Idee, die Kontrolleure so an das soziale Umfeld anzupassen, daß sie unauffällig aus der ersten Reihe zuschlagen können. Großartig! Der Spaß beginnt jedoch erst so richtig, als ein tätowierter Berufsboxer auf Bewährung es überhaupt nicht einsehen möchte, warum er seine mit Kot und Blut beschmierten Springerstiefel nicht auf die gegenüberliegende Sitzbank legen darf.

Es folgt ein sehr lautes Wortgefecht und ein ordentliches Handgemenge, so daß es nun eindeutig Zeit wird, auszusteigen und in die U-Bahn umzusteigen. Grundsätzlich ist die Fahrt mit der U-Bahn ähnlich amüsant wie in der S-Bahn. Besonders lustig in der U-Bahn ist es jedoch, wenn alle Reisenden wie die Lemminge kollektiv an die Decke des Wagons starren, weil dort auf kleinen Bildschirmen die neuesten Nachrichten des „Berliner Kuriers" angezeigt werden: „David Beckhams SMS-Sex, Klitschko ausgeboxt, Wussow doch nicht an Big Brother verkauft!" ....

Dank der nigel-nagel-neuen U-Bahnabteile, die durchgängig verbunden sind, kann man vom ersten bis zum letzten Abteil schlendern. Was für eine Dienstleistung, denn da kann man sämtliche Passagiere des Zugs zur Rechten und Linken wie in einer Ausstellung betrachten. Da können das MoMA und sämtliche Performancekünstler einpacken: Ein Junkie sitzt mit Schweißperlen übersät zitternd neben einer älteren Dame mit Haarnetz, deren haarloser Schoßhund in einer schwarzen Ledertasche vegetiert, 12jährige Mädchen erzählen selbstverständlich und stolz von ihren sexuellen Erfahrungen, ein Dobermann ohne Maulkorb tapst knurrend durch das Abteil, bei einem Fahrgast zeichnet sich ein Pistolenhalfter unter seiner Cordon-Lederjacke (mit Kapuze!) ab, und wenn man Glück hat, kommt auch das legendäre U-Bahngespenst vorbeigehuscht - ein 20 kg schweres Männchen, welches mit Styropor verkleideten Gelenken durch die Züge tingelt und Gedichte auf vergilbten Papier verkauft.

Der Blick fällt auf einen pädagogischen Sticker, der über jedem Fenster des Abteils klebt: „Über Kunst lässt sich streiten, aber nicht über Vandalismus! Jährlich entstehen der BVG durch Vandalismus Schäden in Höhe von bla bla bla…" Und während man diesen Sticker betrachtet und diese These kritisch erörtert, kommt man zu dem Schluß, daß Graffiti, Tags, zerkratze Scheiben, aufgeschlitzte und vollgeschissene Sitzpolster durchaus sehr unschöne Relikte einer verdorbenen Generation in einer immer stärker verrohenden Gesellschaft sind - aber wenn man ehrlich ist, erinnert einen das gleichermaßen an ein Gesamtkunstwerk von Beuys oder an sämtliche Ausstellungsstücke in dem Museum für moderne Kunst im Wiener Museums Quartier.

Just in diesem Moment fährt man in einem Geisterbahnhof ein, der im sozialen Brennpunkt der Stadt liegt. Gott sei Dank muß man hier nicht aussteigen, denn man hätte schon ein mulmiges Gefühl, wo doch jetzt die menschenleeren Bahnsteige nur noch videoüberwacht sind und Notrufsäulen niemals da stehen, wo man sie bräuchte oder ohnehin defekt sind.

Nun ist man aber genug mit der Bahn unterwegs gewesen. Um sich ein ganzheitliches Bild über die BVG zu machen, muß man fairerweise natürlich noch eine Runde mit dem Bus fahren. Die jroßen Jelben sind schließlich Institutionen Berlins! Spätestens wenn man mit einem Doppeldecker, so groß wie ein Einfamilienhaus auf Rädern, durch die Gegend fährt, weiß man, daß man in der deutschen Hauptstadt ist! Das Busfahren ist im Gegensatz zur dunklen Untergrundbahn auch für ein Sightseeing bestens geeignet, am besten mit der Linie 100, die vom Ku-damm, vorbei an Botschaften durch den Tiergarten und zum Brandenburger Tor führt. Manchmal gibt´s sogar noch eine Fremdenführung durch den Busfahrer inklusive Berliner Schnauze: „Zu unsera Linken sehen se ditt Adlon, zu unsera Rechten den Parisa Platz, und wenn se hochkieken, dann sehen sie - nix, außer ditt Dach von dem Bus!" - großes Gelächter und zufriedene Touristen.

Aber auf Sightseeing hat man gerade keine Lust, und so nimmt man eine beliebige Linie durch die Stadt. Busfahren hat irgendwie etwas Geruhsames. Der große Motor brummt unter den Sitzen, und während der Fahrt wird man leicht von einer Seite zur nächsten geschaukelt. Nach wenigen Minuten ist es mit der Ruhe jedoch vorbei, denn an einer Bushaltestelle möchte plötzlich eine siebenköpfige Sinti und Roma Familie mit zwei übervoll gepackten Einkaufswagen einsteigen. Sie drängeln sie sich mit ihren Wagen, die voll mit frisch vom Flohmarkt erstandenem Krempel sind, durch die hintere Bustür und machen sich auf dem für Kinderwagen und Rollstühle reservierten Platz breit. Es geht ein leises Raunen durch den Bus, und alle Fahrgäste gucken sich etwas pikiert an.

Plötzlich platzt dem türkischen Busfahrer der Kragen, und er brüllt: „Wir sind keine Spedition!", und will die siebenköpfige Familie rauswerfen. Diese weigert sich aber beharrlich auszusteigen und die Frauen mit dunklen Kopftüchern flehen den Busfahrer theatralisch an: „Biiiiiitte, Biiiiiiitte!" Doch er bleibt hart und wird langsam so ungehalten, daß er den Motor abstellt und brüllt, er würde nicht eher weiterfahren, bis die Bagage den Bus verläßt.

Es hat mittlerweile den Anschein, daß das noch etwas länger dauern könnte. Der gut gekleidete junge Mann in der letzten Reihe wird seinen Bewerbungstermin definitiv verpassen, und das ältere Ehepaar auf der Behindertensitzbank wird mit Sicherheit zu spät zur Philharmonie kommen.

Die älteste Frau der Familie wird immer lauter und verflucht nun den Busfahrer in einer unbekannten Sprache. Sie rennt mit wehendem Kopftuch und funkelnden Augen um den Bus, breitet ihre Arme aus, fuchtelt wie wild mit ihnen herum und stößt Flüche aus: „Du wirst Unglück haben, Du wirst einen Unfall haben und bald sterben!"

Der Busfahrer antwortet jedoch ganz gelassen: „Ja, ja, das wünsch ich Dir alles auch, und nun raus hier!" Einige Minuten und Flüche später, kann der Bus wieder losfahren. Die siebenköpfige Sinti und Roma Familie bleibt zurück, um auf den nächsten Bus zu warten.

Die Stimmung unter den Passagieren des Busses ist seit dem etwas gedrückt. Ein älterer Herr ist sogar ganz grün im Gesicht und stammelt: „Oh Herr im Himmel, die Alte hat den Fahrer verhext. Der wird einen Unfall machen, und wir werden alle mit ihm sterben."

Nach ein paar Minuten gibt es einen leichten Knall, und alle zucken vor Todesangst zusammen - dabei hat nur ein niedrig hängender Ast eines Baumes den Bus gestreift…

Und während man so in dem Bus sitzt und sich vor jedem Knarren und Knacken fürchtet, überschlägt man die Kosten (6 EURO) und Nutzen der heutigen BVG-Fahrt - und kommt eindeutig zu dem Schluß, daß das Fahren mit der BVG unter sämtlichen Show-Gesichtspunkten eigentlich noch viel, viel, viel zu billig ist!

Und weil man von der BVG so begeistert ist, wird man gleich morgen zum nächsten BVG-Fanshop rennen, um sich mit lustigen Merchandisingartikeln einzudecken. Hoffentlich gibt es noch die mit Stationsnamen (z.B. „Gleisdreieck", „Rohrdamm", „Krumme Lanke" oder „Jungfernheide") bedruckten Slips.


Prinz Pikkolo, April 2004